Eric Grabow und Dr. des. Haziran Zeller
Notwendig dialektisch: Zum Verhältnis von Natur und Gesellschaft
Die ökologische Krise überführt nachdrücklich die Gesamtheit unserer gesellschaftlich unterhaltenen Beziehungen zur Natur ins öffentliche /wissenschaftliche Bewusstsein. Das seit den 80er-Jahren vermehrt anzutreffende Schlagwort der gesellschaftlichen Naturverhältnisse setzt eine Unterscheidung voraus, die ebenso evident wie ‚unverfügbar‘ zu sein scheint: die Grenze zwischen Gesellschaft und Natur. Ihrer begrifflich habhaft zu werden, kündigt sich als eine der Philosophie ureigene Aufgabe an – und lässt erahnen, dass ein solches Verhältnis ‚von beiden Seiten‘ eruiert werden muss . Ob „gesellschaftliche Naturverhältnisse“ den epistemologischen Primat gegenüber „natürlichen Gesellschaftsverhältnissen“ besitzen – oder dies umgekehrt der Fall ist – kann sich nur durch den Versuch ergeben, beide Verhältnisformen zu reflektieren. Daher sollen die zwei hier avisierten Vorträge beide Perspektiven exemplarisch ausbuchstabieren:
Eric Grabow
Es darf postuliert werden: der Unterschied von Gesellschaft und Natur wird je schon innerhalb von Gesellschaft produziert. Ausgehend von dieser Prämisse können anspruchsvolle Differenziationsangebote gemacht werden, welche die vermeintliche Natürlichkeit der Gesellschaft ebenso erhellen wie die gesellschaftlich etablierte Distanz zur Natur. Im ersten Vortrag möchten wir eine solche Verhältnisbestimmung anhand von Hegels Rechts- und Staatsphilosophie vornehmen. Dabei gilt es, Wechselwirkungen und/oder Verschränkungen von unbearbeiteter und bearbeitete r Natur, Individuum und Leib, von Bürger*innen als denkenden Subjekten und Gesellschaft/Staat nachzuzeichnen, sodass sich ein Hegelsches Panorama ergibt, welches zugleich die These st ützt, dass eine ‚reine Natur‘ ein Scheinbegriff oder Pseudogegenstand ist, der nur einer unterkomplexen Epistemologie/Ontologie entspringen kann.
Haziran Zeller
Wir gehen im ersten Teil unseres Vortrags mit Hegel davon aus, dass es keine Natur an sich gibt. Darunter verstehen wir, dass jede angebliche Unmittelbarkeit der uns umgebenden Welt durch ihr Bezogensein auf den Menschen bereits relativiert wird: Praktisch vermittelt etwa Arbeit die irdischen Gegebenheiten, welchem Vorgang in der Theorie die Reflexion analog ist. Diesem naturphilosophischen Gedanken entspricht in der Sozialphilosophie die Infragestellung von Herrschaftsverhältnissen, die sich stets als naturgegeben ausgewiesen haben. Dies wollen wir im zweiten Teil unseres Vortrags auf Grundlage der kritischen Theorie entwickeln. Ihr Streben geht dahin, kein soziales Ansichsein zu dulden, also alle gesellschaftlichen Vorgaben in Theorie und Praxis zu einem Fürsichsein zu verflüssigen. Das erste Motto der kritischen Theorie lautet folglich: „Die Verhältnisse sind menschengemacht, also können sie auch vom Menschen verändert werden.“ Aber diese negative Bewegung findet eine Grenze, denn die Wirklichkeit widersteht als Objekt solcher Infragestellung bislang allen emanzipatorischen Bemühungen der Kritik. Ihre Persistenz wird seit Marx mit dem Ausdruck der „Naturwüchsigkeit“ bezeichnet. Der Terminus markiert, da Natur hier logisch als Widerpart des Geistigen zu verstehen ist, kritisch die bisherige Bewusstlosigkeit des Sozialen, welchem letzteren unter bürgerlichen Bedingungen der Konkurrenz stets auch etwas Rohes und Unzivilisiertes eignet. Handeln wir im ersten Teil und mit Hegel von gesellschaftlichen Naturverhältnissen, geht es im zweiten Teil um die dialektische Gegenbewegung, die versuchsweise mit dem Titel natürlicher Gesellschaftsverhältnisse belegt werden könnte. Je mehr die Natur von Gesellschaft verinnerlicht wird, desto mehr veräußert sie sich selbst, verstockt sozusagen oder verhärtet zu einem bloßen Objekt, dem trotz und wegen seiner geistigen Vermittlung das entscheidende Bewusstsein fehlt. Gesellschaft selbst ist ihr eigener blinder Fleck.
Eric Grabow
Dr. des.
Haziran Zeller
Martin Dornis
Der Klimawandel ist unstrittig menschengemacht. Aber was heißt genau heißt das? Mit Sicherheit sind es durch den Menschen verursachte Emissionen von CO2 und anderen Treibhausgasen wie Methan, die dazu führen, dass die Temperaturen weltweit steigen, die Polkappen schmelzen und die Wälder abbrennen. So klar das alles scheint, so strittig ist es zugleich. Denn unklar bleibt, was menschen- im Unterschied zu naturgemacht überhaupt bedeuten soll. Wenn die Menschen auch Natur und zur Natur der Mensch gehört, dann ist ein menschlich verursachter Klimawandel sowohl natürlich als auch ein natürlicher menschengemacht. Andererseits ist klar: nötig ist eine Gesellschaft, die nicht aufgrund des Profitzwangs unentwegt wächst, denn dafür ist auf einer endlichen Erde mit begrenzten Ressourcen schlichtweg kein Platz.
Die Natur ist gesellschaftlich und historisch während Geschichte und Gesellschaft naturhaft verläuft. Gesellschaft existiert nicht jenseits der Natur und letztere ist nicht statisch gegeben, sondern durch und durch mit Geschichte vollgesogen und historisch veränderlich. Und doch ist sie auch unabhängig vom Menschen. Sie ist für sich selbst und für uns vorhanden. Der Mensch ist als Teil von der Natur getrennt von ihr, sie begegnet sich in ihm selbst. Das aber ist verstellt, weil uns die Natur entweder als Verfügungsmasse instrumenteller Ausbeutung oder als das große Ganze erscheint, dem wir uns bedingungslos unterzuordnen oder in das wir uns aufzulösen hätten. Es gibt jedoch durchaus Hinweise, in denen das aufscheint: Das Naturschöne, der kurze Augenblick, in dem dem Betrachter etwas an Natur als schön anmutet. Stellt die Klimabewegung sich nicht dieser Reflexion, so bleibt sie in Aktionismus und Politizismus befangen. Klimadiagramme bleiben dem instrumentellen Blick auf die Natur verhaftet.
Das Naturschöne ist das tertium datur zwischen instrumenteller Naturbeherrschung und romantizistischer Auflösung des Menschen in Natur. Namentlich die Kulturlandschaft offenbart den historischen Charakter des scheinbar geschichtslosen Naturschönen. Menschlich geschaffene Landschaft zeigt, dass die Technik keineswegs per se der Natur feindlich gesonnen ist, sondern ihr auch freundlich beistehen könnte.
Im Naturschönen zeigt sich, wie die Dinge jenseits des in der kapitalistischen Gesellschaft über sie verhängten Bannes des verselbständigten Tauschwerts (= das Kapital) zu sein vermöchten. Befreit vom Zwange der Identität wären sie keineswegs formlos. So wie Natur ist, wenn sie als schön erscheint, müsste die Menschheit organisiert sein. Der naturschöne Moment zeigt die Welt, wie sie sein könnte, wäre sie nicht durch Kapital und Profit verunstaltet, die Einheit der Naturalisierung des Menschen und der Humanisierung der Natur.
Ein Rekurs auf das naturschöne ist unabdingbar für eine kritische Theorie der Gesellschaft. Wer die Welt verändern will, muss sie als schön erkennen und dieses Moment in die Reflexion aufnehmen.
Mirko Stieber
Ist der Naturbegriff in den letzten Jahrzehnten zunehmend aus den geistes- und sozialwissenschaftlichen Debatten verschwunden, scheint seine Relevanz angesichts der ökologischen Zerstörungen wieder dringlich. Konstatierte Heisenberg noch 1955, dass „zum erstenmal im Laufe der Geschichte der Mensch auf dieser Erde nur noch sich selbst gegenübersteht, daß er keine anderen Partner oder Gegner mehr findet“, so kehrt die äußere Natur in vielen aktuellen Zeitdiagnosen als eigenständiger Akteur zurück. Diese taufen das gegenwärtige Zeitalter auf den Namen des Anthropozäns und zielen auf eine Problematisierung des beschädigten Resonanzverhältnisses zwischen Menschen, anderen Lebewesen und Dingen. Die Natur wird in ihnen nicht mehr ausschließlich als eine passive
Stofflichkeit beschrieben, über die der Mensch beliebig verfügen könne, sondern als eine Handlungsmacht, die agiert und reagiert.
Ob jedoch der Natur selbst Eigenschaften von Subjektivität zukommen – etwa Intentionen, Produktivität oder Imagination – also die Frage ob sinnvollerweise von einem Natursubjekt gesprochen werden kann, ist innerhalb der philosophischen Tradition wiederkehrend aufgegriffen worden: Sie reicht zurück bis zu den Naturphilosophien der Vorsokratiker und findet ihre neuzeitliche Formulierung in den philosophischen Systemen von Bruno, Spinoza, Schelling, Goethe und mit größerer kritischer Distanz auch noch im Denken von Marx. Ihre Naturphilosophien stellten vielfach den Versuch dar, nach dem Wegfall der sakralen Tradition bzw. ihrer Reduktion aufs Private weiterhin metaphysische Impulse zu bewahren. So trat zunehmend der Natur- und Lebensbegriff an die vakante Stelle Gottes und wurde zur Chiffre einer Materialität, die nicht ausschließlich auf den Menschen und seine Selbsterhaltungsinteressen reduzierbar ist.
In den Nachkriegsjahrzehnten war es vorrangig die Kritische Theorie in Anschluss an Adornos und Horkheimers Dialektik der Aufklärung, die eine Gesellschaftskritik mit einer grundsätzlichen Kritik der Naturbeherrschung verband. Ihre Analysen erblicken in der Entzauberung der Natur zu einer bloß passiven Materie zugleich eine Selbstverdinglichung des Menschen – bleibt er doch als Naturwesen weiterhin ein Teil von ihr. Und es ist diese Verschränkung von Naturbeherrschung und sozialer Herrschaft, die in der zweiten und dritten Generation der Kritischen Theorie eine Dethematisierung erfährt und zugunsten einer ausschließlich intersubjektiven Konzeption aufgelöst wird. Verdinglichung wird nun auf soziale Verhältnisse beschränkt, die zudem lediglich als Kommunikations- oder Anerkennungsprozesse beschrieben werden. Ein instrumentelles Verhältnis zur äußeren Natur setzen sie dagegen als notwendig voraus.
Trotz dieser offensichtlichen Vereinseitigungen der Kritischen Theorie ist das Verhältnis zum Naturbegriff aber bereits innerhalb der älteren Kritischen Theorie alles andere als eindeutig. Deshalb soll der Vortrag einer in Adornos und Horkheimers Denken schon angelegten Ambivalenz zwischen Affirmation und Kritik von Naturbeherrschung nachspüren. In einem zweiten Schritt werden ihre Überlegungen mit Roger Caillois’ Naturphilosophie verglichen, der sie unter anderem wesentliche Impulse ihres Lebens- und Mimesis-Begriffes verdanken. Stärker noch als der Ansatz der Kritischen Theoretiker fasst Caillois Natur weniger in Kategorien von Selbsterhaltung oder Mangel auf, sondern vielmehr als ein Ausdruck des Überschusses der Materie. Abschließend sollen mögliche Anschlüsse an gegenwärtige Debatten zur Ökologie und Umweltethik skizziert werden, etwa zur Frage der Begründung einer Umweltethik (physiozentrische vs. anthropozentrische Ansätze).
Mirko Stieber
Arne Kellermann
Wahre Befreiung in der Natur statt gegen sie
Gerade aufgrund der Dringlichkeit der gegenwärtigen Situation der Klimaerwärmung lohnt es sich auf Hegels Philosophie (der Natur) zurückzuschauen. Dies aber gar nicht nur/primär wegen (s)eines richtigen Begriffs von Natur und dem menschlichen Naturverhältnis, sondern auch um davon ausgehend Besseres und Richtiges anzugehen. Denn von Hegels Naturphilosophie her lässt sich nicht nur das Problem des Klimawandels treffend vor Augen führen, sondern es lassen sich noch dessen (politische) Implikationen für die Gegenwart darstellen.
Hegels Philosophie der Natur und deren systematische Stellung in seiner Philosophie der Befreiung ist aus historischen Gründen – insbesondere die damalige Dominanz Schellings sowie die Fokussierung auf gesellschafts-politische Fragestellungen im Anschluss an Hegel – kaum so ernst genommen worden, wie es ihr objektiv angemessen wäre. Zudem hat sich die theoretisch zu reflektierende und gelingend zu verändernde Objektivität seit Hegels Tod verändert. So muss in der Ausführung des Wahrheitsgehalts von Hegels Naturphilosophie zwecks Freisetzung ihres emanzipatorischen Gehalts für den gegenwärtigen Handgebrauch auf gesellschaftskritische Motive über das menschliche Naturverhältnis von Marx und Adorno zurückgegriffen, sowie auf die neoliberale Realität kritisch reflektiert werden. Es geht also nicht um philosophiehistorische Reflexionen oder systematische Darstellungen, sondern es sollen die inhaltlichen Einsichten Hegels an der Problematik der Klimaerwärmung verdeutlicht und deren Wahrheitsgehalt aktualisiert werden.
Die neoliberale Universalisierung von (auch: geistiger) Armut entpuppt sich dabei als wesentlich gesellschaftspolitisch angetriebener Motor der Regression vor den wahren Ansprüchen moderner, menschheitlicher Vergesellschaftung, die noch ein gelingendes Naturverhältnis involvierten. – und das zu einer Zeit, die sich wohl nicht mehr substantiell als Teil „nur“ neoliberaler Regression vernünftig begreifen ließe.
Arne Kellermann