Thilo J. Ketschau und Christian Steib
Das gesellschaftskritische Potenzial der Bildung für nachhaltige Entwicklung, oder: eine negative Dialektik der Zukünftigkeit
Literatur:
– Gräsel, C.; Bormann, I.; Schütte, K.; Trempler, K.; Fischbach, R. & Asseburg, R. (2012). Perspektiven der Forschung im Bereich Bildung für nachhaltige Entwicklung. In BMBF (Bundesministerium für Bildung und Forschung) (Hrsg.), Bildung für nachhaltige Entwicklung – Beiträge der Bildungsforschung (S. 7-24). Bonn & Berlin.
– SRU (Sachverständigenrat für Umweltfragen) (Hrsg.) (1994). Umweltgutachten 1994. Drucksache 12/6995. Stuttgart & Mainz.
– UN (United Nations) (Ed.) (1992). Agenda 21.
– UN (United Nations) (Ed.) (2012). The Future We Want. Resolution 66/288.
Thilo J. Ketschau
Christian Steib
Steffen Pelzel
Der Anbruch des 3. Jahrtausends offenbart kritische Zustände: zum einen hat das Überschreiten ökologischer Kipppunkte die Menschheit über die geochronologische Schwelle eines neuen Erdzeitalters manövriert – vom Holozän ins Anthropozän. Zum anderen überschlagen sich sozialwissenschaftliche Krisendiagnosen: die Metakrise (Leggewie/Welzer), multiple Krise (Brand), Zangenkrise (Dörre) oder nachhaltige Nichtnachhaltigkeit (Blühdorn) liefern einen unübersichtlichen Komplex an Gründen für eine ausbleibende sozial-ökologische Transformation bei doch weitgehend verbreitetem Krisenbewusstsein. Dass in derlei krisenhaften Zeiten Bildung die Rolle der Feuerlöscherin und des Reparaturbetriebs zukommt, ist nicht neu, wird jedoch im Rahmen der global institutionalisierten Nachhaltigkeitsziele (SDGs) und der zentralen Stellung, die Bildung für Nachhaltige Entwicklung (BNE) als key enabler of all other SDGs einnimmt, zugespitzt. Neuerdings wird dabei ein dezidiert kritisch-reflektierendes Denken als bedingende Voraussetzung der entworfenen Strategien expliziert. Nachhaltige Entwicklung und Transformation im Modus des »jetzt aber wirklich«.
Mit der Diagnose des Anthropozän ändern sich dabei nicht nur die Vorstellungen von einer Natur als passiven Hintergrundfolie und Ressource, die nach der Logik stabiler Kreisläufe funktioniert, sondern auch die Kategorien, mit denen wir die Welt beschrieben und entlang derer wir nachhaltigkeitsbezogene Bildungsbemühungen sowie gesellschaftskritische Praktiken ausgerichtet haben. Die Situierung des Menschen im geo-klimatischen Zusammenhang macht deutlich, dass sich die ewig wiederkehrende Frage nach dem richtigen Leben oder – bildungstheoretisch gewendet – die Frage nach einem angemessenen pädagogischen Standpunkt (Normativität/Legitimität) neu stellt.
Ausgehend vom Motiv, Bildung als Entwurf und Modifikation der grundlegenden Figuren des Welt- und Selbstverhältnisses aufgrund des Fraglichwerdens bisheriger Ordnungsfiguren zu fassen (Kokemohr), soll im Vortrag eine kursorische Auseinandersetzung mit Theoretisierungen gesellschaftlicher Naturverhältnisse für eine Formbestimmung kritischer Bildung wirksam gemacht werden. Die mit dem jeweiligen Mensch-Natur-Verhältnis variierenden Denksysteme und Erkenntnisweisen bringen – gelesen als deren immanente politische Epistemologie – je eigene normative Rechtfertigungsordnungen und letztlich spezifische Kritik- und Bildungsweisen mit sich. So ließe sich einer Begriffsvernutzung und präfigurierten Instrumentalisierung des Kritischen vorbeugen und eine Schärfung des dann im Handgemenge gesellschaftlicher Naturverhältnisse situierten kritischen Bildungsbegriffs vornehmen. Es geht demnach um neue Annäherungen an die Frage, wie angesichts der unübersichtlichen Verhältnisse sowie einer sich verflüchtigenden Grundlage für geteilte Wahrheitsansprüche, Kritikpraktiken und (emanzipatorische) Bildung eine aussichtsreiche Bildungsarbeit gedacht, legitimiert und praktiziert werden kann.